Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 204, K. 04

Episode Nr.
44

Über das Verhältnis von Codes und Programmen in Funktionssystemen: Die Paradoxie, dass die Differenz des Codes Recht/Unrecht eine Einheit bildet und für sich proklamiert, Recht zu sein, tritt in den Programmen wieder zutage und befruchtet die Weiterentwicklung des Rechts.

Codes und Programme ergänzen einander. Für sich genommen, sind die invarianten Codes der Funktionssysteme noch „leer“. Allein mit der Unterscheidung von Recht/Unrecht kann man keinen Sinn erzeugen, solange ein Bezugspunkt fehlt, ein konkreter „Fall“. Das System könnte weder wachsen noch sich verändern. Woran sollte es seine Autopoiesis vollziehen?

Durch Konditionalprogramme definiert das Rechtssystem daher Wenn-Dann-Bedingungen, die regeln, was unter welcher Bedingung Recht sein soll. Die Autopoiesis kommt in Fahrt, indem sich das System auf Konditionen bezieht, die sich stets auf den Code beziehen. Erst auf diese Weise kann es wachsen, ist veränderungsfähig und in dieser Dynamik stabil.

Anm.: Durch Konditionalprogramme managen Systeme auch ihr Verhältnis von Inklusion/Exklusion gegenüber der Gesellschaft. Sie bilden Organisationen und stellen Bedingungen sowohl für Mitgliedschaft als auch für Inanspruchnahme auf. Funktionssysteme sind prinzipiell offen für alle (jeder hat Rechtsanspruch). Durch hochspezifische Auswahlkriterien beschränken sie jedoch die Mitgliedschaft und den Zugang. Im Gericht entscheiden nur Richter, in Kanzleien Anwälte, etwa ob eine Klage zulässig ist.

In der Praxis blitzt die zugrundeliegende Paradoxie des Rechts, dass die Differenz von Recht/Unrecht eine Einheit bildet, immer wieder hervor. Z.B., wenn ein Fall unentscheidbar erscheint. Unentscheidbarkeit würde bedeuten, das Recht könnte seine soziale Funktion nicht mehr ausüben. Die Autopoiesis käme zum Erliegen.

Die Lösung ist Richterrecht. Es ist verboten, eine Entscheidung zu verweigern. Die Paradoxie tritt als widersprüchlicher Fall auf und sorgt so dafür, dass die Kommunikation über dieses Problem einen Ausweg findet. D.h. die Paradoxie ist fruchtbar, sie befruchtet die Evolution des Rechts.

Auch am Problem des Rechtsmissbrauchs tritt die Paradoxie auf. Wenn Recht Ungerechtigkeit produziert, steht die Souveränität des Rechts in Frage.

In der Formsprache von George Spencer Brown ist Rechtsmissbrauch ein re-entry: ein Wiedereintritt der Form in die Form. Eine Unterscheidung wird in das Unterschiedene wieder eingeführt. Aber nur auf einer Seite, nur auf der Seite des Rechts. Das Wort Recht taucht zweimal auf.

Wenn Entscheidungen keine Gerechtigkeit schaffen, enthüllt sich also die zugrundeliegende Paradoxie des Rechtssystems. Genau daran entzündet sich die Kommunikation und findet neue Lösungen.

Dass die Kommunikation im Rechtssystem ständig die Grenze zwischen Recht/Unrecht kreuzt („crossing der Grenze der Form“), mag unbewusst geschehen. Spätestens bei der Festlegung jedoch, wenn begrifflich „markiert“ wird, was nun Recht sein soll, wird offensichtlich, dass diese Entscheidung beide Seiten gleichzeitig betrifft. Jede Definition, was Recht ist, definiert gleichzeitig mit, was Unrecht ist. Ein Urteil ist geltendes Recht. Darum ist auch missbrauchtes Recht logisch geltendes Recht.

Kurz, aus der Paradoxie gibt es kein Entrinnen. Das Rechtssystem beruht auf ihr. Die Paradoxie beflügelt die Evolution, indem sie Widersprüche aufzeigt, wenn das Recht keine Gerechtigkeit zu schaffen scheint. Genau daran wächst das System.

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