Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 218, K. 05

Episode Nr.
49

Warum die Idee der Gerechtigkeit als „Kontingenzformel“ zu verstehen ist.

Kontingenz bedeutet zunächst ganz allgemein: Es kann auch anders kommen. Eine Enttäuschung im Einzelfall ändert jedoch nichts an der normativen Erwartung.

In der Theorie sozialer Systeme ersetzt der Begriff Kontingenzformel eine Reihe althergebrachter Kategorien, mit denen Gerechtigkeit bisher oft definiert wurde: Wert, Prinzip, Idee, Tugend. Der Begriff ersetzt diese Kategorien jedoch nicht vollständig. Stattdessen müssen zwei Perspektiven unterschieden werden.

Aus der internen Perspektive des Rechtssystems ist Gerechtigkeit zweifellos die oberste Norm: Alle Entscheidungen sollen Gerechtigkeit schaffen. Diese Norm stellt für das System durchaus einen Wert dar, man kann sie als Prinzip verteidigen oder für eine „Tugend“ halten.

Aus der Umweltperspektive eines externen Beobachters jedoch kann dieselbe Rechtsentscheidung, die im System Gerechtigkeit verkörpert, ungerecht erscheinen. Aus dieser Beobachterperspektive ist Gerechtigkeit eine Kontingenzformel. Gerechtigkeit wird erwartet, aber Enttäuschung ist nicht ausgeschlossen.

Die Begriffswahl soll zudem klarstellen, dass es eine Bezeichnung braucht, die alles abstreift, was durch die einstige Vorstellung eines Naturrechts auch die Vorstellungen von Gerechtigkeit begrifflich mitgeprägt hatte. Da es keine Beziehung zwischen Natur und Recht gibt, gibt es auch keine zwischen Natur und Gerechtigkeit.

Wertbegriffe würden zudem Vorstellungen anderer Systeme ins System importieren. Das ist für ein operativ geschlossenes System ausgeschlossen. Besonders gut sieht man das am Wertbegriff der Tugend, der z.B. Keuschheit und Demut umfasst. Derlei Kategorien spielen bei der Entscheidungsfindung im Recht keine Rolle.

„Prinzip“ verweist auf Kants Kategorischen Imperativ und die Ethik. Und „Ideen“ sind seit Platon Erscheinungen, die sich von sich aus offenbaren. Mit all dem lässt sich jedoch weder Recht von Unrecht unterscheiden noch Gerechtigkeit definieren.

Stattdessen spezifiziert sich die Formel selbst. Die Unterscheidung Recht/Unrecht produziert eine Rechtsentscheidung, die einer weiteren Unterscheidung unterzogen werden kann: Ist die Entscheidung gerecht oder ungerecht? Die Antwort soll positiv ausfallen. Dies ist jedoch weder exakt bestimmbar noch abschließend definierbar. Es kommt auf die Perspektive des externen Beobachters an.

Die Funktion einer Kontingenzformel liegt somit in der Differenz zwischen Bestimmbarkeit/Unbestimmbarkeit. Die Grenze zwischen den Begriffen soll gekreuzt werden. Dabei ist der Gegensatz bestimmbar/unbestimmbar selbst paradox, denn wenn man etwas bestimmt (durch Unterscheidung und Bezeichnung), bestimmt man das damit Ausgeschlossene gleichzeitig mit. Man bestimmt also das Unbestimmbare – eine Paradoxie.

D.h. Kontingenzformeln stellen gewählte Lösungen in Frage. Die Kommunikation kreist um Fragen, welche anderen Möglichkeiten es gäbe.

Innerhalb der Modalkategorien Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit schließt Kontingenz die Notwendigkeit (im Sinne einer Ursache-Wirkung-Beziehung) aus. Der Bereich des Kontingenten beinhaltet das Spektrum dessen, was rechtlich möglich ist und was man als Wirklichkeit ansehen muss. Die Grenzen sind verschiebbar.

Tugenden, Prinzipien, Ideen usw. sind demnach Ausformungen der Kontingenz: Aus dem Spektrum der Möglichkeiten verkörpern sie das, was wirklich geworden ist – durch Selektion genau dieser Möglichkeiten und Ausschluss von anderen. Auf diese Weise wird Gerechtigkeit kanonisiert und bleibt wandelbar. Die Tugend kann abgewählt werden, Gerechtigkeit nicht.

Die Funktion, die Grenze zwischen bestimmbar/unbestimmbar zu kreuzen, ist eine unausgesprochene, latente Funktion. Dass der Begriff diese Funktion hat, wird nicht mitkommuniziert. Die Paradoxie, dass Gerechtigkeit sowohl bestimmbar sein soll als auch nicht endgültig bestimmbar ist, wird invisibilisiert.

Kontingenzformeln von Funktionssystemen sind entsprechend systemadäquat, sie passen sich dem hochspezifischen Problem an, das das Funktionssystem für die Gesellschaft lösen will. Dafür nutzt das System einen Eigenbegriff, der darauf hinweist, dass es anders kommen könnte, ohne die Undefinierbarkeit seines Themas zur Diskussion zu stellen.

So invisibilisiert der Begriff der Bildung, dass es Lernunfähigkeit geben könnte und dass Bildung niemals abschließend definierbar ist. Die Formel stößt Diskussionen an: Sie fordert dazu auf, die Grenze zwischen bestimmbar/unbestimmbar zu kreuzen. „Knappheit“ verhüllt, dass der Zugriff des einen nur dessen Knappheit reduziert, jedoch für alle anderen erhöht.

Mit der Kontingenzformel Gerechtigkeit repräsentiert das Rechtssystem seine Einheit im System. Gerechtigkeit ist die Norm und nicht bloß ein Selektionskriterium, das man wählen/nicht wählen könnte. Die Formel befeuert Diskussionen, wenn eine Normverletzung beobachtet wird.

Kontingenzformeln sind demnach ein Sonderproblem, das im Verhältnis zwischen Generalisierung und Respezifikation besteht. Einerseits dient die Formel dazu, normative Verhaltenserwartungen generell stabil zu halten. Andererseits muss jede einzelne Operation des Systems so spezifiziert werden, dass sie die Erwartungen nachvollziehbar erfüllt.

Kommentare

Mit Joachims Versuch einer Definition des Begriffs der Zirkularität bin ich nicht einverstanden: Der gesprochene Satz, wenn A dann B und wenn B dann A konstituiere einen Zirkelschluss, ist nicht korrekt. Wenn A dann B entspricht der logischen Operation der materiellen Implikation, der seit Aristoteles wichtigsten Operation philosophischer Logik. Oft auch als Konditional bezeichnet und mit A —> B formalisiert.

Also: A —> B und B —> A kann auch als Bikonditional A <—> B geschrieben werden und entspricht semantisch der Identität von A und B: A = B. Das ist jedoch kein Zirkelschluss, sondern ein korrekter logischer Schluss aus den beiden Prämissen A —-> B und B —-> A. Ein Zirkelschluss ist demgegenüber ein Regress ad infinitum, also ein Beweisfehler, bei dem die Voraussetzungen das zu Beweisende bereits enthalten.

P.S. Bei den länglichen Ausführungen zur Kontingenz habe ich die knackige Definition Luhmanns aus „Soziale Systeme“ Seite 152 vermisst:

Kontingent ist etwas, was weder notwendig ist noch unmöglich ist; was also so, wie es ist (war, sein wird), sein kann, aber auch anders möglich ist.

Danke, dass Du das richtig gestellt hast. - Da hast Du natürlich recht.

Die Definition von Kontingenz, die Du angeführt hast, meine ich doch erwähnt zu haben. Wenn nicht in dieser, dann in einer anderen Folge. Sie ist aber eher allgemein, als spezifisch für oder von Luhmann. Das wird man so in philosophischen Wörterbüchern so lesen können.

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