Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 251, K. 06

Episode Nr.
56

Anhand der Differenz von Texten und ihrer Interpretation lässt sich nachweisen, dass das Rechtssystem eine eigenständige Evolution vollzieht.

Im I. Abschnitt hatte Luhmann Darwins Evolutionsschema von der Biologie auf soziale Systeme übertragen:

  • Variation betrifft die Elemente: Ein Element in der Kommunikation bietet ein neues Reproduktionsmuster an. Z.B. eine neuartige Auslegung eines Gesetzestextes.
  • Selektion betrifft die Strukturen: Die Kommunikation entscheidet, ob sie die Variation annimmt oder ablehnt. Wird die veränderte Interpretation akzeptiert, reproduziert sich das System nach dem neuen Muster. (Andernfalls nicht).
  • Stabilisierung betrifft das gesamte System: Je nachdem, wofür sich die Kommunikation entschieden hat, reproduziert sich das System künftig nach dem veränderten Muster. (Oder wie gehabt.)

Es gilt im Folgenden zu klären, was genau die Strukturen des Rechtssystems sind, die eine Evolution ermöglichen, und wie diese fixiert sind. Ziel ist es nachzuweisen, dass soziale Systeme, die operativ geschlossen sind und sich aus ihren eigenen Elementen reproduzieren, eigene Evolutionen vollziehen.

Es liegt nahe, bei Strukturen sofort an Texte zu denken. Ein Abgleich von Texten und deren Interpretation macht Abweichungen markierbar. Dieser Gedanke liegt auch deshalb nahe, weil Schriftform eine nicht mehr wegzudenkende Geltungsbedingung des Rechts ist. Eine genauere Betrachtung der Schrift lässt jedoch schnell erkennen, dass diese Annahme mit vielen Schwierigkeiten verbunden ist, und wie konnte sich das Recht in den Jahrtausenden vor Erfindung der Schrift entwickeln?

Verschiedene preadaptive advances (der Anpassung vorausgehende Fortschritte) schufen Voraussetzungen, die ihrerseits günstige Voraussetzungen für andere Entwicklungen schufen.

Herausragend ist die frühe Praxis der Devination (Weissagung). Devination kann als Vorläufer des Rechtssystems betrachtet werden. Weissagungen boten Rat in diversen Fragen des Lebens, so auch in Streitigkeiten. Verschiedene Formen begannen sich auszudifferenzieren. Durch Tradierung, d.h. durch stete Wiederholung (Redundanz), konnte man sich passende „Weisheiten“ bei Bedarf vergegenwärtigen. Diese Tradierung senkte das Risiko, dass die psychische Gedächtnisleistung eines Individuums ausfiel bzw. Anlass für Zweifel und Streit bot. (Denn eine mündliche Wiederholung ist streng genommen nur eine fiktive Wiederholung, anfällig für nicht überprüfbare Abwandlung.) Durch die Devinationspraxis wurden Expertise und Komplexität aufgebaut. Man ging von der Beschreibung von Einzelfällen aus (Kasuistik) und operierte mit Wenn-Dann-Bedingungen (also mit Konditionalprogrammen, wie das Rechtssystem heute auch).

Der zunehmende Bedarf, die sich ausdifferenzierenden Formen der Devination zu fixieren, dürfte im 5. Jahrtausend vor Chr. zur Erfindung der (Keil-)Schrift beigetragen haben. Doch erst durch Phonetisierung (Verlautschriftlichung) und Alphabetisierung ca. 1200 vor Chr. wurde Schrift universell einsetzbar; heute würde man sagen: alltagstauglich.  

Weissagung, Schrifterfindung und Rechtsentwicklung stehen also in engem Zusammenhang. Das Recht gebrauchte die Schrift anfangs vor allem, um Schuldverhältnisse in Verträgen zu fixieren und Abweichungen (Variation!) von einem vertraglich gegebenen Versprechen nachweisen und rechtlich bewerten zu können.

Auch die monotheistischen Religionen bauten darauf auf, dass eine weitentwickelte Praxis der Devination vorlag und Schrift zur Verfügung stand. So wurden die Zehn Gebote bereits in der Zeit vom 10. bis zum 7. Jh. vor Chr. entwickelt. Schriftlich fixierte „Gesetze“ existierten also schon lange, bevor sich das Recht mit dem römischen Zivilrecht zu einem besonderen System auszudifferenzieren begann.

So wie schon die Devinationspraxis das Unvertraute durch regelhafte, tradierbare Kommunikationspraktiken in eine handhabbare, vertraute Form gebracht hatte, zelebrierte dann auch die monotheistische Religion das Unbekannte im Bekannten (man denke an Bibel-Interpretation, Gebete, Gesänge, Rituale etc.). Ihr Neuheitswert lag in der Erfindung einer „höheren“, unerreichbaren und damit übermächtigen Rechtsquelle namens GOTT.

Mit dieser Umstellung auf eine Verschriftlichung von Recht und Religionen ging zugleich eine Umstellung der zugrundeliegenden gesellschaftlichen Differenzierungsform einher, die in der Soziologie als „Katastrophe“ bezeichnet wird:

Vor der Erfindung der Schrift war die Gesellschaft segmentär differenziert, d.h. nach untereinander gleichwertigen Familien, Stämmen und Verbänden. Schrift begünstigte die Entstehung einer stratifikatorischen Differenzierung, d.h. eine Schichtung in Ober- und Unterschicht.

Mitbegünstigt wurde die Schichtung vermutlich durch Stadtbildung und den Fernhandel mit Luxusgütern. Dieser machte einige Familien reicher als andere, die Ungleichheit erhöhte sich. Das neue „Vermögensgefälle“, wie wir heute sagen würden, brachte die Praxis der Reziprozität (Gegenseitigkeit) aus dem Gleichgewicht. Reiche konnten nun ungleich mehr geben, spenden, schenken, verteilen als andere. Eine angemessene Revanche bzw. Danksagung wurde für Ärmere damit zunehmend unmöglich. Es entstanden soziale Schuldverhältnisse, die den Beschenkten in die Rolle einer zukünftigen Dienstbarkeit auf Abruf zwangen – und den Gebenden höherrangig erscheinen ließen. Schriftgebrauch dürfte diese einsetzende Schichtung begünstigt haben. Zumindest, wenn man davon ausgeht, dass ein ökonomisch höherer Stand auch mehr Bildung, Macht und Einfluss auf die Entwicklung von Recht und Politik bedeutet. Letztlich kippte das Stabilitätsprinzip der Gesellschaft von zuvor grundsätzlicher Gleichheit in eine grundsätzliche Ungleichheit.

Die Ausgangsfrage, woran genau sich nun die Strukturen des Rechtssystem fixieren lassen, um daran eine eigenständige Evolution ablesen zu können, ist letztlich nur anhand von Texten zu beantworten. Allerdings können Texte an sich keine Evolution vollziehen. Erst wenn sie gelesen und interpretiert, d.h. wenn Abweichungsvorschläge diskutiert werden, bilden sie ein Medium, in dem Sinne, dass einer losen Kopplung von Elementen bestimmte strikte Kopplungen zu einer relativen Stabilität gelangen.

Hier, auf der Seite der Rezeption, kommt es dann darauf an, wer den Text liest und wie der Text interpretiert wird. Hier sind Abweichungen möglich, indem der Text anders ausgelegt wird als zuvor. Kurz, an den Differenzen von Text/Interpretation, Text/Kontext oder wörtlicher/gemeinter Sinn (im Text) lässt sich zeigen, wie ein System durch Schrift zu relativ stabilen Strukturen kommt und wie es trotz einer physischen Fixierung evoluieren kann. Texte bieten einerseits die Möglichkeiten Sinn reproduzierbar zu machen (zu stabilisieren) und bilden immer zugleich ein Medium für Interpretation und Variation der Strukturen des Systems.

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