Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 261, K. 06-III

Episode Nr.
58

Unter welchen evolutionären Bedingungen konnte sich das Recht zu einem operativ geschlossenen Funktionssystem ausdifferenzieren? Welche Unwahrscheinlichkeiten mussten überwunden werden?

Die wohl grundlegendste Bedingung ist, dass unerwartete normative Erwartungen überhaupt kommuniziert werden. Erst Streit macht klar, dass es unterschiedliche Erwartungen gab. Es entsteht ein Bedarf nach Schlichtung. Je öfter Schlichtung praktiziert wird, desto wahrscheinlicher wird es, dass sich damit Erwartungen an eine „endgültige Klärung“ herausbilden, an der sich auch Unbeteiligte in Zukunft orientieren können.

Dabei ist Konsens gerade kein Merkmal des Rechts. Es geht im Gegenteil darum, gerade weil es Dissenz gibt, eine Form zu finden, die es ermöglicht zu entscheiden, welche normative Erwartung für „berechtigt“ erklärt werden kann – und welche nicht. Die Erfindung des Verfahrens machte es dann möglich, den bei einer sozialen Abstimmung noch notwendigen Konsens durch davon unabhängige Verfahrensregeln und Kompetenznormen zu ersetzen, die sich selbstreferentiell auf das Recht beziehen.

Diese Problemlösung bedeutete zugleich ein „Einige für alle“-Prinzip. Damit entscheiden nur noch wenige Experten (Richter und Gesetzgeber), welche Normen für alle gelten sollen.

Dass sich Rollen herausbilden konnten, in denen „Einige für alle“ entscheiden, setzt die Evolution von Schrift voraus. In der stratifizierten Gesellschaft war die Beherrschung des Lesens und Schreibens ein Privileg der höherrangigen Schicht gewesen. Als sich in Europa ca. ab dem 16. Jh. Politik, Wirtschaft, Recht, Wissenschaft usw. als je eigene Funktionssysteme auszudifferenzieren begannen, ging damit auch ein allmählicher Wechsel der gesellschaftlichen Differenzierungsform einher.

Anstelle einer religiös begründeten Platzierung qua Geburt in die Schicht von Adel oder Volk, kam es zunehmend auf Expertise an, auf Fähigkeiten, Geschick, Ehrgeiz, Talent, „Genie“ usw. Das so entstehende „Individuum“ muss sich zunehmend durch zu erwerbende Fähigkeiten rangmäßig selbst platzieren. In immer mehr gesellschaftlich notwendigen Funktionen kann die einst schichtbedingte Eignung durch Profession ersetzt werden. Der Beruf wird zur sozialen Funktion, die Personen auf Mikroebene erfüllen.

Die Evolution von Verfahren hatte rechtlich weitreichende Konsequenzen: Variation und Selektion sind nicht mehr dasselbe. Sie nehmen zwei unterschiedliche Funktionen an. Ohne Verfahren hatte man Variationen in einer Argumentation invisibilisieren können; die Abweichung war praktisch kaum überprüfbar. Die Selektion hing nur von dem ab, was vorgetragen wurde, sie folgte fast zwangsläufig der Abweichung.

Erst Verfahren ermöglichten es, die Selektion vom Vorgetragenen zeitlich unabhängig zu machen und es anhand von Rechtsnormen zu überprüfen. Das Verfahren beansprucht eine Eigenzeitlichkeit für die Entscheidungsfindung. Und die Urteilsbegründung beruft sich nur noch auf rechtliche Normen, Begriffe, Kategorien, Regeln, Ausnahmen von Regeln usw.

Variation bedeutet seitdem, dass Texte interpretiert werden müssen. Selektion ist die Entscheidung, ob das Recht die Variationsmöglichkeit annimmt oder ablehnt.

Die wichtigste Bedingung für die operative Schließung des Rechtssystems ist jedoch nicht das Verfahren allein, sondern die Argumentationsweise, die sich daraus ergibt. Zwei zuvor übliche Argumentstypen werden damit unmöglich:

Es kann nun nicht mehr ad hominem in einer „Beweisrede zum Menschen“ argumentiert werden, sondern nur noch entlang rechtlicher Normen, die das Recht selbst festlegt. Ebenso unmöglich wird die ad hoc-Argumentation. Situative Konfliktlösung verbietet sich. Der Nachteil ist, dass damit keine schnellen, bequemen Zwischenlösungen mehr möglich sind. Das Recht verzichtet auf diesen „Elastizitätsvorteil“ und gewinnt ungleich viel mehr: seine Autonomie als System.

Durch die selbstreferentielle Operationsweise des Verfahrens entfallen letztlich alle Möglichkeiten, auf nicht-rechtliche Sachverhalte Bezug zu nehmen: Die Berufung auf „Gesetze“ muss zurückgewiesen werden, da Gesetze nicht dem Recht, sondern der Politik entspringen. Stattdessen beruft sich das Recht auf Geltung, also auf sich selbst. Ebenso irrelevant werden die Bezugnahme auf Moral, „common sense“, Gott oder Natur.

Kurz, die Ausdifferenzierung der juristischen Argumentation, angestoßen durch Verfahren, wird zum entscheidenden Träger der eigenständigen Evolution des Rechtssystems.

Dass es dazu kam, stellt eine überwundene Unwahrscheinlichkeit dar. Exzeptionelle Bedingungen dafür gab es in Europa durch das Römische Zivilrecht. Dazu mehr in der nächsten Episode.

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