Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 233, K. 05

Episode Nr.
53

Als Form blieb die Unterscheidung Gleichheit/Ungleichheit über Jahrtausende unverändert. Was jedoch als gleich/ungleich gilt, hat sich historisch gewandelt. Ausschlaggebend hierfür waren mehrfache Wechsel der gesellschaftlichen Differenzierungsformen (segmentär, ständisch, funktional) sowie die Weiterentwicklung von Erkenntnistheorien.

Um zu veranschaulichen, worauf der Gerechtigkeitsbegriff der modernen Gesellschaft aufbaut, führt Luhmann nochmals das Naturrecht an.

Naturrecht ging davon aus, dass alle Dinge von Natur aus gleich oder ungleich sind. Die Erkenntnis richtete sich nach den Gegenständen. Dem Menschen, der die Dinge beobachtet, offenbart sich ihr „Wesen“ (durch Beobachtung erster Ordnung). Es tritt in „Erscheinung“.

Streitigkeiten klärten Autoritäten durch dafür entwickelte Fragetechniken und Methodiken wie Dialektik. Man ging davon aus, dass These und Antithese zu einer Synthese führen, die dann mehr oder weniger zweifelsfrei als „richtige“ Meinung gelten kann.

Nachdem Decartes’ methodischer Zweifel („Ich denke, also bin ich“) 1641 das Subjekt begründet hatte, läutete Kants „Kritik der reinen Vernunft“ 1781 die Kopernikanische Wende in der Philosophie ein: Die Erkenntnis richtet sich nicht mehr nach den Gegenständen, sondern umgekehrt: die Gegenstände richten sich nach der Form der Erkenntnis!

Raum und Zeit sind nach Kants Transzendentalphilosophie die Formen, die dem Subjekt zur äußeren und inneren Anschauung gegeben sind. Freiheit lässt sich nicht kausal aus der Natur ableiten, sondern aus der Vernunft. Aus der Vernunft resultiert auch die Notwendigkeit, Freiheit einzuschränken.

In der Aufklärung gerät der politisierte Begriff der Menschenrechte mit seinen Prinzipien von angeborener Gleichheit und Freiheit in direkten Widerspruch zum Recht, das der zugrunde liegenden Ständeordnung gefolgt war und zwischen Adel/Volk unterschieden hatte. Gleichheit und Freiheit müssen singularisiert werden, sie gelten nun für jedes Individuum. Soziale Schichtung lässt sich rechtlich nicht länger fortsetzen.

Das lässt jedoch neue Widersprüche auftauchen: Wenn jedes Individuum von Geburt an frei ist, ist Recht Einschränkung von Freiheit. Und es liefert sogar erst den Anlass zur Ungleichbehandlung. Diese Paradoxien kann auch der Begriff des Zivilzustandes nicht auflösen, der dem Naturzustand (abgewählt) eilig entgegengesetzt wird.

Aufgelöst werden diese Paradoxien erst durch ein re-entry. Das heißt in der Formsprache von George Spencer Brown: Das Unterschiedene wird in die Unterscheidung wieder eingeführt. Die Gleichheit der Menschen muss rechtlich akzeptierte Ungleichheit der Fälle akzeptieren. Und die Freiheit der Menschen muss akzeptieren, dass es eine rechtlich akzeptierte Notwendigkeit der Einschränkung gibt. Mit diesem re-entry vollzieht das Rechtssystem seine operative Schließung zu einem autonomen Funktionssystem.

Der Evolutionsschritt besteht darin, dass der jeweils negative Wert der Unterscheidung (Ungleichheit sowie Notwendigkeit der Freiheitseinschränkung) in das Recht integriert wird – und zwar auf der Ebene von Fällen. Die Unterscheidung von gleichen/ungleichen Fällen wird zum Hauptgegenstand der rechtlichen Kommunikation, nicht mehr die Gleichheit/Ungleichheit der Individuen. Die Grenze kann fallweise verschoben werden, ist variabel. Die Entscheidungsfindung wird kontingent: Es kommt nicht notwendig so, wie man vermuten könnte; es ist aber auch nicht unmöglich.

Mit Begriffen wie Vernunft, Prinzipien oder Werten lässt sich die rechtliche Entscheidung nicht mehr herleiten, sondern eben nur noch mit der normativen Unterscheidung von gleichen/ungleichen Fällen. Das Recht wird positiv, änderbar.

Die unverändert gebliebenen Begriffe und insbesondere die Menschenrechte verschleiern diese Verlagerung auf Fallebene, mit der sich das Rechtssystem als Funktionssystem schließt.

Dabei setzt sich das Recht als System selbst der Beobachtung zweiter Ordnung aus. Es unterscheidet normativ zwischen gleichen/ungleichen Fällen und verweist auf sich selbst. Der angeborenen Freiheit der Menschen setzt es rechtlich begründete Unfreiheiten entgegen (gesetzliche Beschränkungen im Politiksystem, Urteile im Rechtssystem). Freiheit wird zugestanden, der Gegenbegriff der notwendigen Einschränkung ist nun jedoch rechtlich begründet.

Dieser Modus der Beobachtung zweiter Ordnung zieht sich durch alle Funktionssysteme. Die Gesellschaft bezeichnet sich nun selbst als „moderne“ Gesellschaft. Sie unterscheidet damit zwischen Vergangenheit und Zukunft: dem nicht mehr haltbaren, kosmologischen Weltbild der Metaphysik und ihrer zweiwertigen Logik – und den polykontexturalen Weltbeschreibungen einer immer offenen Zukunft. Diese ermöglichen keine einheitliche Beschreibung von Gesellschaft und Wirklichkeit mehr.

Dass das Recht kontingent wurde, heißt jedoch nicht, dass es konservativ entscheidet, also sich bloß an bewährten Lösungen orientiert und diese reproduziert. Genau hier schafft die Kontingenzformel Gerechtigkeit Abhilfe: Jeder Fall wird darauf überprüft, ob er gleich oder ungleich ist. Jede Fallabweichung schafft Chancen für Variation.

Das heißt, das Rechtssystem evoluiert durch Ausdifferenzierung. Es definiert Abweichungen bei der Gleichheit von Fällen. So kann es konsistent entscheiden und variieren. Die Vorstellung, dass die „Intention“ des Gesetzgebers oder von Vertragschließenden interpretiert würde, um Recht zu ändern, ist dagegen eher Rhetorik. Selbst wenn Intentionen rechtlich eine Rolle spielen: Die Rechtsmaschine würde prüfen, ob es einen vergleichbaren Fall mit einer vergleichbaren Intention schon einmal gab.

Durch diese Operationsweise bleibt das Rechtssystem intern offen, anpassungsfähig an rechtsrelevante Entwicklungen.

Fazit: Die Kontingenzformel Gerechtigkeit sichert die Evolution des Rechtssystems, indem sie Variation ermöglicht. Die Kommunikation kreuzt die Grenze der Form gleich/ungleich und verschiebt fallweise, was als gerecht zu gelten hat.

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