Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 223, K. 05

Episode Nr.
50

Gerechtigkeit wird traditionell oft mit Gleichheit gleichgesetzt: Gleiche Behandlung in gleichen Fällen leuchtet als gerechte Behandlung ein. Gleichbehandlung lässt sich zudem durch Regeln formulieren, d.h. man kommt damit auf eine operative Ebene, die praktisch handhabbar ist. Doch damit ist noch nicht definiert, was Gerechtigkeit ist.

Erst der Begriff der Gleichheit komplettiert die Kontingenzformel Gerechtigkeit: Bei der Unterscheidung von Recht/Unrecht müssen ungleiche Fälle logisch ungleich behandelt werden. Die normative Unterscheidung gleich/ungleich lässt sich wiederum der Unterscheidung unterwerfen, ob die Zuordnung richtig/falsch erfolgt, also rechtens ist.

Tatsächlich ist Gleichheit ebenso wie Gerechtigkeit kein Wert, sondern ein Differenzprinzip. Sie ist eine weitere Kontingenzformel, d.h.: ein Schema der Suche nach Gründen und Werten. Kontingenzformeln ermöglichen eine höhere Abstraktionsstufe: Die Kommunikation thematisiert die Differenz zwischen gleich/ungleich bzw. gerecht/ungerecht. Um eine Entscheidung zu finden, kreuzt die Kommunikation beide Seiten der Form und macht so die Differenz zum Thema. Die Formel spezifiziert sich selbst.

Zu beachten ist, dass Gleichheit immer zusätzliche Kriterien braucht, die variieren können. Welche selektiert werden, hängt auch von der gesellschaftlichen Differenzierungsform ab. So galt bei Aristoteles „soziale Gleichheit“ nur für freie Männer, nicht für Sklaven und Frauen. Seine Gerechtigkeitstheorie ging von einer stratifizierten Gesellschaftsordnung aus, in der alle Menschen durch Geburt einen unterschiedlichen sozialen Rang hätten. (Stratifiziert: geschichtet, von lat. stratum: Schicht.) Die Gesellschaft war anders nicht vorstellbar. Auch die Rechtsentwicklung folgte diesem Schema und differenzierte nach Rang qua Geburt.

Im Übergang zur funktional differenzierten Gesellschaft musste der Bezug auf Rang durch Bezugnahme auf Funktion ersetzt werden. Das Rechtssystem ist heute ein operativ geschlossenes Funktionssystem. Gleichzeitig ist es mit dem Gesellschaftssystem jedoch strukturell gekoppelt: Durch Kommunikation können sich Systeme gegenseitig irritieren. (Die Theorie sozialer Systeme benutzt den Ausdruck Irritabilität. In eine ähnliche Richtung deuten andere Theorien mit den Begriffen „Responsivität“ oder „Sensitivität“.) An dieser Verbindungsstelle ist der Begriff Gerechtigkeit unerlässlich: Er hat die Funktion, die strukturelle Kopplung zwischen den Systemen zu stabilisieren.

„Kontingenzformel“ weist auf diese externe Beobachterperspektive hin: auf das Verhältnis zum Gesellschaftssystem, in dem das Rechtssystem operiert und das für es als Voraussetzung gegeben ist. Ob eine rechtliche Entscheidung Gerechtigkeit schafft, wird in der Umwelt vor allem nach moralischen Kriterien bewertet. Aus sozialer Perspektive ist Gerechtigkeit darum kontingent: „Es kann auch anders kommen“.

Bei Kontingenzformeln geht es also um das Verhältnis zwischen Systemen. Bei zunehmender Komplexität des Gesellschaftssystems müssen Funktionssysteme darum auch eine adäquate Komplexität für konsistentes Entscheiden aufbauen. Adäquität wird durch Redundanz und Variation erzeugt, durch das Verhältnis von Wiederholung und Abweichung von der Wiederholung in ungleichen Fällen. Dazu später mehr im 8. Kapitel über Argumentation.

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