Autopoiesis

(altgr. αὐτός autos, deutsch ‚selbst' und ποιεῖν poiein „schaffen, bauen“) In der Theorie sozialer Systeme ist Autopoiesis ein fortlaufender Prozess, in welchem ein System die Elemente, aus denen es besteht, selbst produziert und re-produziert. Der Prozess kennzeichnet mit seinem Verlauf den Beginn und das Ende eines Systems. 

Der Gründlichkeit und Klarheit in der Begriffsarbeit halber, sollten „Autopoiesis“ und „Systeme“ auch getrennt gedacht werden können, statt von Anfang an von „autopoietischen Systemen“ zu sprechen. Das ist meines Wissens nach in der Literatur seit Maturana noch nicht gemacht worden. Vielleicht gibt es dafür gute Gründe, die ich nicht kenne, aber ich finde diese Unterscheidung erhellend und für die Einführung in die Systemtheorie wichtig.

Autopoiesis kann man an noch viel einfacheren Prozessen beobachten, als an den Prozessen die ein System vollführt: z.B. bei der Kettenreaktion in der Kernspaltung, oder beim Verbrennen von Holz im Kamin. Die Spaltung eines Urankerns setzt sehr viel Energie frei. Ein Teil der Energie wird auf frei werdende Neutronen übertragen, die mit hoher Geschwindigkeit emittiert werden. Trifft solch ein Neutron einen anderen Urankern, so wird auch dieser Kern gespalten und derselbe Prozess wiederholt sich. - Das Brennen eines Gegenstandes erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass weitere Gegenstände Feuer fangen. Die gleichen Prozesse wiederholen sich immer wieder, und jedesmal, wenn sie sich wiederholen, schaffen sie notwendige Bedingungen dafür, dass sie sich erneut wiederholen. Aber das Feuer oder die Kernspaltung bilden a se kein System, sie verlaufen unreguliert und unkontrolliert, bis alles verbrannt oder gespalten ist. Dennoch sind sie autopoietische Prozesse. Sie erfüllen das Kriterium der prozessualen Selbst-Reproduktion, ohne dass ein System daran beteiligt wäre. 

Das Stattfinden eines Prozesses erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass weitere gleichartige Prozesse, die ansonsten unwahrscheinlich sind, folgen werden. So einfach ist der Grundgedanke.

Eine der wichtigsten Unterscheidungen, die zum Verständnis von autopoietischen Prozessen führt, ist: dass sie, wie alle Prozesse, reine Zeitobjekte sind, im Unterschied zu räumlichen Objekten. Autopoiesis ist ein Prozess, dessen Verlauf eine spezifische zeitliche Struktur aufweist. Erst wenn wir die Struktur des Prozesses genau verstanden haben, erst dann können wir z.B. den räumlichen Aufbau des Uran-Kerns oder des Holzes untersuchen, inwiefern er den Ablauf der Kettenreaktion begünstigt oder nicht. Die Zeitstruktur des Ablaufs ist das Primäre, räumliche Betrachtungen, wie auch alle weiteren Aspekte, sind sekundär und dem Zeitlichen untergeordnet - und man kann sagen, dass sie eigentlich gar nicht zum Prozess gehören, sondern vielmehr zu den Voraussetzungen des Prozesses, die wir als gegeben annehmen. Der Prozess steht dann als Zeitobjekt mit seiner spezifischen Struktur wie ein Musikstück für sich selbst, in dem Sinne, dass es unabhängig von dem Instrument ist, auf dem es gespielt wird.

(s. Zeitobjekte, Artikel folgt)

Die Autopoiesis sozialer Systeme ist nach Luhmann die Kommunikation. Kommunikation ist wie Feuer; wenn sie einmal in Gang gekommen ist, dann vermag sie sich rasch auszubreiten, wie auch, die Bedingungen dafür zu schaffen, sich selbst zum erliegen zu bringen. Die Elemente aus denen sie besteht (das Pendant zur einzelnen Kernspaltung oder Oxidation) sind die Kommunikationen, deren Prozesstruktur wie folgt charakterisiert werden kann: Es gibt eine Mitteilung, aus der Mitteilung wird eine Information gewonnen, wodurch es möglich wird, die Mitteilung zu verstehen. Das Verstehen setzt einen vorher-nachher Unterschied frei, der sozusagen das Spannungsfeld bildet, in dem der Funke, die Mitteilung der nächsten Kommunikation ausgelöst wird. Usw. (s. Mitteilung-Information-Verstehen) 

Dieses ist die Grundstruktur der einzelnen Kommunikation. Mit dieser Struktur haben wir (oder hat Luhmann) einen Prozess-Typ bestimmt, der darauf ausgerichtet ist, in einem zeitlichen Geschehen ein sich wiederholendes Schema beobachten zu können. Unsere Beobachtung wird durch die Einführung der Unterscheidungen „Mitteilung-Information-Verstehen“ so ausgerichtet, dass wir im ständigen Wechsel und Durcheinander des sozialen Geschehens etwas erkennen können, das gleich bleibt, sich wiederholt, eine sequentielle Ordnung bildet. - Und mehr noch: Wir können beobachten, dass die sequentielle Abfolge der ganzen Kommunikation unterbrochen wird oder ganz zum erliegen kommt, wenn ein Moment der einzelnen Kommunikation, die Mitteilung (der Funke), ausbleibt. Das berechtigt uns zu der Annahme, dass wir diesen Prozess-Typ autopoietisch nennen können, weil wir damit zeigen können, dass die vorangegangene Kommunikation konstitutiv für die folgende ist, dass sich Kommunikationen durch Kommunikationen reproduzieren. 

Auch die Kommunikation ist - wie das Feuer - zu unregulierter Ausbreitung fähig. Dabei denke ich an den Kupferstich von Paul Weber mit dem Namen „Das Gerücht“, wo man gleichsam sieht, wie sich ein Gerücht im rasenden Tempo in der Gesellschaft verbreitet; Ungeachtet der Konsequenzen und unumkehrbaren Folgen, die das hat. Auch das ist möglich. - Das sind aber nicht die Phänomene, die Luhmann untersuchen will. Wenn man daran interessiert ist, wie sich semantische Gehalte in der Gesellschaft verbreiten, dann müsste man bei Georg Simmel suchen, der am Beispiel von Moden zeigt, wie dies geschieht und wovon es abhängig ist.  Luhmann geht es um die Erscheinungen, in denen es der Kommunikation gelingt, das Feuer bzw. sich selbst zu bändigen, ganz eigene Strukturen zu bilden, wonach sie sich selbst beobachtet und reguliert. - Und dabei solche Institutionen hervorbringt wie das Recht, die Politik oder die Wissenschaft. 

Um zu verstehen, was autopoietische Systeme im Unterschied zu autopoietischen Prozessen sind, bedarf es darüber hinaus noch weiterer Unterscheidungen. Vor allem bedarf es der Einführung des System-Begriffs. Was die Autopoiesis der Kommunikation anbelangt, reichen diese Unterscheidungen vorerst aus. Die Autopoiesis ist, um ein paar vergleichende Metaphern zu verwenden, die Basis und der Antrieb jeder Kommunikation. 

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