Start des 9. Kapitels über das Verhältnis von Politik und Recht. Die Theorie sozialer Systeme geht davon aus, dass Politik und Recht zwei autopoietische, operativ geschlossene Funktionssysteme sind. Historisch scheinen Rechtsetzung und Rechtsprechung eher eine Einheit zu bilden. Diese Auffassung scheint auch der Begriff «Rechtsstaat» zu bestätigen.
Gehen wir zunächst auf die systemtheoretische Einordnung ein. Zu Beginn weist Luhmann darauf hin, dass die Theorie sozialer Systeme eine Reflexionstheorie ist. Das bedeutet, sie verlangt eine Beobachtung zweiter Ordnung. Der Forschungsgegenstand «Recht» darf nicht einfach als «gegeben» hingenommen werden. Stattdessen muss ein Beobachter (wir) erstmal beobachten: Welche Bedingungen der Möglichkeit müssen vorliegen, damit es diesen Forschungsgegenstand überhaupt geben kann?
Hier stoßen wir auf die System-Umwelt-Differenz: Rechtliche Kommunikation unterscheidet sich selbst von allen anderen Kommunikationen, zum Beispiel von politischen. Das ist beobachtbar und lässt sich nachvollziehen, auch historisch. Anhand der Unterscheidung von rechtlicher/nicht rechtlicher Kommunikation unterscheidet das Rechtssystem sich selbst von der Umwelt und konstituiert sich dadurch erst. Es gäbe kein «Rechtssystem», wenn sich rechtliche Kommunikation nicht selbst von ihrer Umwelt unterscheiden würde. Und das bereits weist darauf hin: Politik und Recht sind operativ geschlossene Systeme.
Beide reproduzieren alle Elemente (= Kommunikationen), aus denen sie bestehen, selbst. Dies beschreibt der Begriff der Autopoiesis. Immer, wenn es um Gesetzgebung geht, lässt sich die Kommunikation der Politik zuordnen. Und immer, wenn es um die Unterscheidung von Recht/Unrecht geht und um die Zuordnung, ob der Fall gleich/ungleich ist, lässt sich die Kommunikation dem darauf spezialisierten Rechtssystem zuzuordnen.
Beide Kommunikationssysteme erfüllen zudem unterschiedliche Funktionen für die Gesellschaft: Die Funktion der Politik ist, mit soziologischem Abstand betrachtet, das Bereithalten von Kapazität für kollektiv bindende Entscheidungen. Gesetze gelten für alle. Macht wird in einer generalisierten Form ausgeübt.
Die soziale Funktion des Rechts ist dagegen die kontrafaktische Stabilisierung von normativen Verhaltenserwartungen. Rechtsprechung mag die Erwartung enttäuschen oder erfüllen, in jedem Fall macht sie besser einschätzbar, was in absehbarer Zeit zu erwarten ist. Macht wird ebenfalls ausgeübt, jedoch bezogen auf den Einzelfall.
Auch die Durchsetzungsmodi unterscheiden sich. Die für alle geltende Gesetzgebung wird durch Regierung, Verwaltung und Justizorgane durchgesetzt. Rechtsprechung betrifft nur den Einzelfall. Das Urteil wird direkt durchgesetzt, zum Beispiel durch Freispruch.
Historisch ergibt sich jedoch ein anderes Bild.
In Europa lag eine evolutionäre Besonderheit vor. Das römische Zivilrecht hatte sich früh ausdifferenziert und Fragen des Zusammenlebens geprägt. Auf seiner Grundlage wurde das Naturrecht formuliert. Bis ins Mittelalter schien eine Einheit von Politik und Recht zunächst ausgeschlossen zu sein. Das spiegelt auch der Machtkampf Kirche vs. Kaisertum wider.
Ab dem 16. Jh. begann sich diese Auffassung zu ändern. Obwohl sie keine Gewaltenteilung im Sinn hatten, auf der sich im 18. Jh. der «Rechtsstaat» begründete, legten Theoretiker wie Suárez, Hobbes und Pufendorf die Grundlagen dafür.
Alle drei entwickelten Mechanismen zur Machtkontrolle. Bei Suárez († 1617) findet sich die Idee, dass staatliche Macht rechtlich gebunden sein muss und unter dem Recht stehe. Hobbes entwickelte einen Gesellschaftsvertrag («Leviathan», 1651), der erstmals nicht vom Herrscher, sondern vom «Individuum» ausgeht. Zudem unterschied er zwischen «Staat» und «Herrscher» in Persona, was für die spätere Verrechtlichung staatlicher Macht wichtig war. Pufendorf († 1694) entwickelte das Konzept des rechtlich gebundenen Staates weiter.
Geprägt waren alle von der Erfahrung permanenter Kriege in Europa. Darunter: deutscher Bauernkrieg (ab 1524), Krieg zwischen protestantischen Fürsten und katholischem Kaiser, französische Hugenottenkriege, niederländischer Unabhängigkeitskrieg gegen die spanisch-katholische Herrschaft und der 30-jährige Krieg. Dieser endete 1648 mit dem Westfälischen Frieden und gilt als Abschluss einer Periode von «Hundert Jahre Bürgerkrieg».
Nicht zufriedenstellend gelöst hatten die Theoretiker jedoch das Problem des Widerstandsrechts für den Fall, dass der «Souverän» ein Tyrann war. Das Volk besaß weder Wahlrecht noch Klagerecht. Erst im 18. Jh. setzte sich die Erkenntnis durch, dass dauerhafter Frieden nur zu erreichen ist, wenn Politik und Recht sich in einem als Einheit darstellenden Rechtsstaat die Gewalten teilen – und dem Individuum einklagbare Rechte zugestehen.
Auf diese Weise konnte der «Rechtsstaat» das Widerstandsrecht in regelbare Bahnen lenken. Er selbst gibt vor, welche Mittel legal/illegal sind, und er richtet auch im Streitfall darüber. Statt selbst zur Gewalt zu greifen, muss das Individuum nun vor Gericht ziehen.
Das Individuum wurde zur zentralen Figur der Zivilrechtsordnung. Um ihm Rechte und Pflichten zuzuweisen, wurde Begriffe wie natürliche Person und Rechtsfähigkeit erfunden. Es kam zur Entstehung von Grundrechten, subjektiven, bürgerlichen, sozialen und kollektiven Rechten. Auch Kritik am «Individualismus» entstand, markiert durch Marx.
Der «Rechtsstaat» hatte nun das Gewaltmonopol. Zugleich garantiert er dem Individuum Rechte. Doch erst die Verfassung vollbringt dann das Kunststück, Einheit und Differenz gleichzeitig zum Ausdruck zu bringen. Einerseits wird damit die Differenz von Politik und Recht bestätigt. Es handelt sich um zwei autonome Systeme, zwei Formen der Machtausübung. Gerade darum werden die Gewalten geteilt. Andererseits bilden beide Systeme gemeinsam den Rechtsstaat, also eine Einheit in einer dritten Figur. Die verfassungsrechtliche Absicherung ist noch jung. In der BRD wurde sie erst 1949 vollzogen.
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