Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 362, K. 08-III

Episode Nr.
83

Wie die Interpretation von Texten Innovationen im Rechtssystem anstößt

Redundanz bedeutet im Rechtssystem: Um eine neue Information einzuordnen, bezieht man sich auf schon vorliegende Informationen. Diese sind schriftlich in Texten fixiert und schränken den Auswahlbereich dessen, was daran angeschlossen werden kann, ein. Doch der Text muss ja noch interpretiert und in Bezug zum aktuellen Fall gesetzt werden. Und wer interpretiert, muss antizipieren, ob die Auslegung auch für andere Kommunikationsteilnehmer überzeugend sein wird.

Interpretation ist damit ein soziales Verhalten. Ausgewählt werden Unterscheidungen, die auch für andere Kommunikationsteilnehmer überzeugend sein sollen. Wie andere Teilnehmer dann tatsächlich daran anknüpfen, ist nicht zweifelsfrei vorhersehbar. Das heißt: Solange die Diskussion darum kreist, wie ein Text zu interpretieren ist, konstituiert der Text für die Beteiligten ein soziales Medium. Jeder Sachverhalt, der entschieden wird, bildet eine Kommunikationsepisode.

Dabei ist die Auswahl der Begriffe, mit denen ein Argument begründet wird, kontingent. Das heißt: Es könnte auch anders ausgewählt werden. Hermeneutik, Dialektik und Rhetorik gingen noch davon aus, ein „Subjekt“ könne „objektiv“ die „Wahrheit“ erkennen. Die Theorie sozialer Systeme geht jedoch davon aus, dass jede Beobachtung eine Konstruktion eines Beobachters ist. Sie kann nur mit Begriffen geschildert wird, deren Auswahl kontingent ist.

Eine Besonderheit des Rechts besteht darin, dass jeder Fall entschieden werden muss (Justizverweigerungsverbot). Darum ist auch die Argumentation entscheidungsgetrieben. Sie bezieht sich laufend auf Entscheidungen anderer. Man orientiert sich an der im Fachgebiet „vorherrschenden Meinung“, verfolgt Entscheidungen anderer Gerichte und beurteilt Präzedenzentscheidungen entlang der Frage, welche Entscheidungsregeln ihnen zugrunde gelegt wurden. Je nachdem, ob der Sachverhalt im aktuellen Fall gleich/ungleich ist, ist dann zu entscheiden, ob dieselbe Regel wieder anwendbar ist oder nicht. Immer geht es darum, einerseits universelle Entscheidungsgründe zu finden, die künftig auf gleiche Fälle desselben Typs angewendet werden können. Und andererseits spezifische Entscheidungsgründe, die sich aus der Besonderheit des Falls ergeben.

Die Argumentation bereitet die finale Entscheidung dabei „nur“ vor. Sie selbst produziert noch kein geltendes Recht. Ihre Funktion ist es, den Auswahlbereich von final zu treffenden Entscheidungen einzuschränken. Wir finden also eine Doppelstruktur vor: geltende Texte und argumentative Begründungen. Die Argumentation bezieht sich redundant auf normativ anzuwendende Regeln und Prinzipien. Sie selbst ist aber kein normativer Prozess. Im Gegenteil. Nur wenn die Argumentation auch Enttäuschungen produziert, aus denen sich etwas lernen lässt, können normative Regeln und Prinzipien formuliert werden, auf die sich zukünftige Argumentationen beziehen können. Erst auf diese Weise entsteht eine Rechtsdogmatik, die sich selbst als Rechtsquelle behandeln kann.

Gründe werden bei der Interpretation als „gute“ Gründe dargestellt. Es wird so logisch und so „objektiv“ wie möglich begründet. Im Ergebnis erscheint Argumentation als Kondensat aus geprüften „guten“ Gründen – eben als das, was man „Institution“ nennen kann. Die Theorie sozialer Systeme weist jedoch darauf hin, dass es keine Letztbegründung für Gründe geben kann. Auch die Vernunft kann sich nur mit sich selbst begründen (Tautologie).

Redundanz bedeutet, dass durch Interpretation von Texten Innovationen möglich werden. Man kann Entscheidungen der Vergangenheit neu interpretieren, Argumentationsfehler erkennen, neu hinzugekommene Regeln einführen. Die Evolution der Kommunikation verläuft in einem dreistufigen Kommunikationsprozess: Variation, Selektion und Restabilisierung. Interpretation befeuert die Evolution natürlich, und damit auch die Weiterentwicklung der Rechtsdogmatik. Dies alles erfolgt systemintern, das Rechtssystem reproduziert sich autonom. Ein gesellschaftlicher „Wertewandel“ zum Beispiel wäre im Rechtssystem kein Argument. Nur Entscheidungen über Recht und Unrecht zählen.

Wenig beachtet wird, was es bedeutet, dass Gründe Differenzen produzieren. Ein Grund beruft sich auf eine ausgewählte Unterscheidung, die (wie jede Unterscheidung) kontingent ist, weil auch eine andere Unterscheidung hätte ausgewählt werden können. Bezeichnet wird jedoch (zwangsläufig) nur die ausgewählte Seite der Unterscheidung. Verschwiegen wird (ebenso zwangsläufig), was nicht ausgewählt wurde. Semantisch scheinen Gründe damit nur einzelne Gesichtspunkte zu bezeichnen. In ihrem Schlepptau hängen jedoch komplexe Gedankengänge, die ihre Ausschließungseffekte mit rechtfertigen.

Um geprüfte und für „gut“ befundene Gründe wiederverwenden zu können, werden sie zu Regeln und aus Regeln dann Prinzipien kondensiert. Je öfter Regeln und Prinzipien jedoch wiederverwendet werden, desto schwerer wird es, sie nicht anzuwenden. Man hat eine Tradition begründet, die zu missachten schwerlich begründet werden kann.

Das Recht behilft sich hier oft, indem es einer Regel eine Ausnahmeregel hinzufügt. Die Regel selbst wird damit nicht angetastet, es werden ihr aber immer mehr Ausnahmen hinzugefügt. Die Evolution findet dann nur auf der Ausnahmeseite statt! Bei zunehmender Komplexität wird es immer schwieriger, begriffliche Systematisierungen zu ändern.

Argumentation stützt sich also auf Gründe. Gründe begründen sich mit Unterscheidungen. Unterscheidungen sind eine Auswahl, sie „verschweigen“, was nicht ausgewählt wurde. Das führt zu der Frage, ob man eine juristische Argumentation „dekonstruieren“ kann, indem man das „Verschwiegene“ ins Feld wirft. Damit lässt sich jedoch kein rechtlicher Sinn konstruieren. Denn auch das Hinterfragen von ausgewählten Unterscheidungen kann ebenfalls nur durch ausgewählte Unterscheidungen erfolgen. Diese sind selbst kontingent. So wie man endlos nach der Begründung von Begründungen zurückfragen kann, ohne je auf einen Letztgrund zu treffen, wäre jede Dekonstruktion unendlich.

Das Rechtssystem hat auch dafür seine autonome „Lösung“ gefunden: Die Verwendung von Redundanz und Varietät erlaubt es durchaus, Unterscheidungen zu thematisieren, und das auch auf der Seite des „Verschwiegenen“. Man kann nachfragen, was mit der ausgewählten Unterscheidung nicht bezeichnet wurde. Man kann also „dekonstruieren“, aber eben nicht beliebig, sondern nur anhand von Regeln, die das Recht als autonomes System anerkennt. Auch hierin zeigt sich die operative Geschlossenheit des Rechtssystems. 

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