Eine Letztbegründung von Gründen mit „Gott“ wäre im positiven Recht der Moderne nicht mehr zulässig. Wie werden Argumente stattdessen begründet? Luhmann hebt die Beurteilung der Folgen von Rechtsentscheidungen hervor.
Im alteuropäischen Recht der Vormoderne konnte man sich bei der Interpretation von Texten noch auf Gott berufen. Gottes Wille äußerte sich in der Natur. Der menschlichen Natur ließ sich Vernunft zuschreiben, die es dem „Subjekt“ ermöglichte, „objektive“ Erkenntnis zu gewinnen. Mit solchen Begründungsbegriffen ließ sich „gut“ argumentieren: Sie stützten sich gegenseitig. Gott war Ursprung und Letztbegründung zugleich.
Mit der Säkularisierung brauchte es Ersatz. Das positive Recht der Moderne ist „menschgemacht“ und entsteht durch Kommunikation – die immer kontingent ist. Welche Vorgehensweise bei der Suche nach „guten“ Begründungen finden wir heute vor? Die Theorie sozialer Systeme nennt hier die Beurteilung der Folgen einzelner Rechtsentscheidungen. Folgeneinschätzung ist zum Standard in der Argumentation geworden. Die Interpretation legt verschiedene Szenarien zugrunde und schätzt jeweils ein: Welche Folgen könnten sich ergeben, je nachdem, welche Regel man zugrunde legt?
Bereits im Naturrecht war es üblich gewesen, Folgen abzuschätzen. Das Prinzip der Billigkeit diente dazu, die Angemessenheit möglicher Folgen zu beurteilen. Heute hat sich die Kontrolle des Rechts anhand der Einschätzung von erwünschten/unerwünschten Folgen als einzig überzeugendes Prinzip in Rechtstheorie und Praxis durchgesetzt. Die Vorgehensweise gilt als allgemein akzeptiert.
Die Theorie sozialer Systeme hinterfragt diese Operationsweise jedoch tiefer: Was beobachten wir (die Soziologie), wenn wir diese Vorgehensweise beobachten? Verlangt wird also eine Beobachtung zweiter Ordnung. Wir beobachten, wie Beobachter beobachten.
Aus dieser Perspektive können wir zunächst etwas ausschließen: Nicht beobachtbar ist, dass das Recht mithilfe der Beurteilung etwaiger Folgen von Rechtsentscheidungen einen Zweck verfolgen würde. Zweckprogramme wendet die Politik an: Um ein Ziel zu erreichen, wird ein Gesetz beschlossen. Auch die Politik schätzt ein, welche Folgen das Gesetz haben könnte: Vor allem „Risiken“ (eine Unter-Unterscheidung von Gefahr) werden eingeschätzt. Im Recht wird jedoch nicht mit „Um zu“-Begründungen argumentiert. Stattdessen arbeitet die rechtliche Argumentation mit Konditionalprogrammen, mit Wenn-dann-Bedingungen.
Folgeneinschätzung in Recht und Politik sind nicht dasselbe. Für das Recht geht es nur um systeminterne Folgen. Im Zentrum steht die Frage, wie sich die Anwendung einer Regel auf zukünftige Entscheidungen auswirken könnte. Dabei müssen zwar auch verschiedene Möglichkeiten des Verhaltens in der Umwelt konstruiert und Annahmen „durchgespielt“ werden. Dies geschieht jedoch nur, um systeminterne Konsequenzen einzuschätzen.
Eine in der Politik typische Prognose, wie die Umwelt reagieren könnte, z.B. KonsumentInnen, braucht es dagegen nicht. Die Beurteilung etwaiger Rechtsfolgen dient nur der internen Konsistenzpflege. Die Einschätzung bereichert den Vorrat an Redundanzen, auf die man sich zukünftig argumentativ beziehen kann.
Welchen Unterschied es macht, ob das Recht nur systeminterne oder auch die Umwelt betreffende Folgen ins Kalkül zieht, wird leicht übersehen. Die Frage ist, ob es auf Dauer möglich sein wird, sich als operativ geschlossenes Rechtssystem gegenüber den externen Folgen der Rechtsprechung zu verschließen. (Z.B.: Folgen für den Klimaschutz.)
In dieser Frage blitzt der politische Begriff des Interesses auf. Rechtsprechung hat Konsequenzen für die davon potenziell Betroffenen. Bei der Lebensrettung kann man ein Interesse des Retters unterstellen, für etwaige Schäden durch seine Hilfsaktion entschädigt zu werden. Andernfalls könnte das Risiko für ihn zu hoch sein, im Notfall zu helfen – könnte man unterstellen. Man sieht an diesem Beispiel, wie schwierig es ist, etwaige interne/externe Folgen auseinanderzuhalten. Die politische Argumentation mit Interessen kann auf das Rechtsdenken abfärben. So legt eine Studie über Autounfälle Schlussfolgerungen über zulässige Höchstgeschwindigkeiten nahe. In Bezug auf externes Fachwissen sind RichterInnen Laien. Dennoch haben sie die Kompetenz zu entscheiden! Die Folgenorientierung beruht auf konstruierten Vorstellungen, die zu geltendem Recht führen.
Das Recht argumentiert dennoch nicht mit Zwecken. Auch wenn es einen Trend zur Einbeziehung externer Folgenprognosen geben mag, intern wird damit nur die eigene Varietät erhöht. Das Recht wirkt „responsiver“ gegenüber seiner Umwelt, wenn es externes Fachwissen mit in seine Entscheidungsfindung einbezieht.
Beobachten lässt sich, dass sich die Begründung von „guten“ Gründen verlagert hat: vom Sicheren (Gott) ins Unsichere (Einschätzung möglicher Folgen), von Vergangenheit in Zukunft, vom Feststellbaren zu Wahrscheinlichkeiten. Die Folgeneinschätzung wird auf eine Frage der höchsten Expertise zugespitzt. Es lässt sich dann sagen: Besser kann es Stand heute niemand einschätzen. Die Begründung wird also verzeitlicht und abgebrochen. Damit wird angedeutet, wie kontingent sie ist und dass es keine Letztbegründung geben kann.
Paradoxien wie guter/schlechter Grund oder wahr/unwahr sind binäre Codes. Mit dem Verweis auf Zeit wird ein dritter Wert eingefügt: die Zukunft. Das Recht kann die Folgen seiner Folgeneinschätzung jedoch später nicht mehr „korrigieren“. Die Auswirkungen sind dann bereits Vergangenheit. Die Theorie sozialer Systeme plädiert deshalb dafür, sich die Künstlichkeit jeder binären Codierung bewusst zu machen. Zumindest kann man dann sehen, dass es Variationszusammenhänge gibt und binäre Codes ihre Paradoxie nur managen können, indem sie dritte Werte zu Hilfe nehmen.
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