Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 393, K. 08-VIII

Episode Nr.
88

Welches zugrunde liegende Problem offenbaren die Theoriekontroversen über Interessen- und Begriffsjurisprudenz? Das rekonstruiert die Theorie sozialer Systeme anhand der Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz.

Der Streit über Interessen- und Begriffsjurisprudenz Anfang des 20. Jh. hatte die Funktion des Rechts theoretisch nicht befriedigend erklären können. Auffällig: Der Begriff des Interesses verweist auf die Umwelt des Rechts. Eine Rechtstheorie müsse jedoch beobachten, wie die Rechtsprechung damit umgeht.

Im achten Abschnitt will Luhmann nun rekonstruieren, welches zugrunde liegende Problem die Kontroversen offenbaren. Hierzu unterscheidet er formale und substantielle Argumente. Formales Argumentieren bedeutet Selbstreferenz und Bezug auf Rechtsbegriffe. Substanzielles Argumentieren bedeutet Fremdreferenz und Bezug auf die Umwelt. In dieser Umwelt gibt es selbstverständlich ebenfalls, teils gleichlautende Begriffe, wie das „Interesse“.

Formale Argumente sind selbstreferentiell, zum Beispiel: Formvorschriften. Substantielle Argumente lassen dagegen Erwägungen zu, die in der Umwelt mutmaßlich eine hohe Rolle spielen. Auf diese Weise verhindert das Rechtssystem Selbstisolation und bleibt in der Lage, „offen“ für die Umwelt zu sein. Systemintern verarbeitet es Begriffe und Interessen aus der Umwelt jedoch ausschließlich in operativer Geschlossenheit. Argumentieren bleibt eine systeminterne Operation, auch wenn Begriffe der Umwelt benutzt werden, wie „Interesse“.

Entscheidend ist die Unterscheidung zwischen System/Umwelt. Die Umwelt schätzt ihre Interessen stets als „berechtigt“ ein und plädiert dafür, bevorzugt zu werden. Für das Rechtssystem sind jedoch alle Interessen zunächst gleichwertig. Es homogenisiert die Interessen der anderen, um dann erst, von Gleichwertigkeit ausgehend, eine durch Recht gerechtfertigte Entscheidung zu treffen, wessen Interessen bevorzugt bzw. zurückgewiesen werden. Und ausschließlich dafür braucht es Argumente und Begründungen.

Das Rechtssystem baut ein Interesse der Umwelt somit in ein systeminternes Konstrukt um. Dieses ist nicht deckungsgleich mit den Vorstellungen und Erwartungen der Umwelt.

Laufende Selbstreferenz durch Bezugnahme auf Rechtsbegriffe heißt nicht, dass das System „zirkulär“ argumentieren würde. Im Gegenteil: Die Selbstbezüglichkeit erfüllt die Funktion, dass Begriffe wie eine Schablone auf den aktuellen Fall angewendet werden müssen und es dadurch erst ermöglichen, gleiche Fälle von ungleichen zu unterscheiden. Auf diese Weise enttautologisieren Begriffe die Selbstreferenzialität des Rechts. Sie ermöglichen Unterscheidungen, die einen Unterschied machen.

Aus dem Umweltbegriff des Interesses hat das Rechtssystem also einen eigenen Rechtsbegriff des Interesses gemacht. Mit diesem zwingt es sich zur systeminternen Unterscheidung von berechtigten/nicht berechtigten und zu bevorzugenden/zurückzusetzenden Interessen.

Die Kontroverse Begriffsjurisprudenz/Interessenjurisprudenz ähnelt der älteren Kontroverse zwischen Rationalismus/Empirismus, die ebenfalls Mühe hatte, Selbst- und Fremdreferenz zu unterscheiden. Für den Rationalismus steht Descartes, der mit dem Satz „Ich denke, also bin ich“ davon ausging, dass die Selbstbeobachtung des „Subjekts“ „objektive“ Erkenntnis ermögliche. Für den Empirismus steht Francis Bacon, der auf die Umwelt verwies: Messbare Beobachtungen in der Umwelt ermöglichen dem „Subjekt“ Erkenntnisse.

Unterbelichtet in beiden Kontroversen blieb der Sinn des Unterscheidens zwischen Selbst- und Fremdreferenz selbst. Das eine bedingt das andere. Für das Rechtssystem ist die Unterscheidung von Begriffen und Interessen jeweils eine systeminterne Operation. Dass es sich selbst von der Umwelt unterscheidet, ist Voraussetzung für seine Autopoiesis (Selbstreproduktion). Ohne die Unterscheidung würde das Rechtssystem nicht existieren.

Die systeminterne Unterscheidung, wessen Interessen bevorzugt/zurückgesetzt werden, verleiht Gerichtsentscheidungen eine paradoxe Note. Denn das zurückgewiesene Interesse landet im Systemgedächtnis und kann – in einem neuen Fall – neu bewertet werden. Die Unterscheidung führt also zu einer „Potentialisierung“ von Interessen (Yves Barel).

Diese Betrachtungen legen es nahe, dass Interessenabwägung kein Rechtsprinzip sein kann. Das Grundgesetz besagt, dass Interessen vor Gericht als gleichrangig anzusehen sind, sofern nicht das Recht selbst unterschiedliche Bewertungen für bestimmte Konfliktfälle vorschreibt.

Dieser Kritik wurde Rechnung getragen, indem das Recht Mitte des 20. Jh. von Interessen- auf Wertungsjurisprudenz umstellte. Analyse und Bewertung von Interessen wurden getrennt. Zudem wurde von Interessen- auf Güterabwägung umgestellt: Bei Grundrechtskonflikten werden Grenzen und Inhalte kollidierender Rechte bestimmt und abgewogen. In der Praxis fällt es der Argumentation jedoch schwer, sich nicht an Interessen der Umwelt zu orientieren.

Die Unterscheidung von Selbst-/Fremdreferenz ermöglicht es, tendenzielle Verschiebungen im Recht zu erkennen, zum Beispiel hin zu mehr substantieller oder formaler Argumentation.

Das Verhältnis Selbst/Fremd ist ein Grundproblem komplexer Funktionssysteme. Der Begriff des Interesses zeigt, wie ein Funktionssystem wie das Recht ein solches Problem „löst“: Es hat den Umweltbegriff systemintern durch rechtliche Unterscheidungen verarbeitet. Dadurch hat es sogar seine Varietät erhöht: Es kann mehr verschiedenartige Operationen ausführen.
 

Neuen Kommentar hinzufügen

Der Inhalt dieses Feldes wird nicht öffentlich zugänglich angezeigt.

Eingeschränktes HTML

  • Erlaubte HTML-Tags: <a href hreflang> <em> <strong> <cite> <blockquote cite> <code> <ul type> <ol start type> <li> <dl> <dt> <dd> <h2 id> <h3 id> <h4 id> <h5 id> <h6 id>
  • Zeilenumbrüche und Absätze werden automatisch erzeugt.
  • Website- und E-Mail-Adressen werden automatisch in Links umgewandelt.