Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 195, K. 04

Episode Nr.
42

Warum gibt es im Rechtssystem nur Konditionalprogramme, keine Zweckprogramme? Der wichtigste Grund ist: Nur durch Wenn-dann-Bedingungen kann das System in der Kommunikation laufend zwischen Selbstreferenz und Fremdreferenz unterscheiden.

Selbstreferenz heißt, das System bezieht sich auf sich selbst. Die Kommunikation unterscheidet zwischen Recht und Unrecht. Alle Fakten werden darauf limitiert, ob sie sich dem Code zuordnen lassen.

Fremdreferenz bedeutet, die Kommunikation bezieht sich auf die Umwelt – aber nur, um rechtsrelevante externe Fakten herauszufiltern. Diese behandelt das System dann wieder strikt nach systeminternen Normen. Insofern sind operativ geschlossene Systeme der Umwelt gegenüber kognitiv offen.

Nur Konditionen machen es möglich, immer feinere Unterscheidungen einzuziehen bei der Beurteilung, ob etwas Unrecht oder Unrecht ist. Das System kann sich ausdifferenzieren.

Durch sein Konditionalprogramm konstruiert sich das Rechtssystem selbst als Trivialmaschine: Bei gleichem Input kommt das gleiche Output heraus. Gleiche Fälle werden gleichbehandelt. Und das Urteil unterscheidet garantiert zwischen Recht und Unrecht.

Konditionalprogramme sind eine evolutionäre Errungenschaft, die bereits vor rund 5000 Jahren bald nach der Erfindung der Schrift in Mesopotamien in Texten nachweislich ist. Simple Wenn-dann-Verknüpfungen strukturieren die Welt. Sie ordnen Komplexität, ohne sie zu diesem Zeitpunkt bereits logisch begründen zu können.

Konditionen verknüpfen Ursache und Wirkung: Wenn etwas so und so ist, dann soll das und das gelten. Konditionalprogramme, die eine Beziehung zwischen Ursache und Wirkung herstellen (Kausalität), entwickelten sich also sehr viel früher als die Fähigkeit zu logischem Denken, bei der von der Wirkung ausgehend auf die Ursache zurückgeschlossen wird. Ein solches Mehr-Ebenen-Denken entwickelte sich erst ab dem 5. Jh. v. Chr. bei den „alten Griechen“, allen voran Aristoteles.

Weil Konditionalprogramme seit Jahrtausenden praktiziert werden, haben sie entsprechend stark und früh die Rechtsvorstellungen der Gesellschaft geprägt. Die jeweilige gesellschaftliche Differenzierungsform (ob tribal nach Stämmen, ständisch nach Adel/Volk oder funktional differenziert wie heute) ist für Konditionen nur ein Kontext, in dem zwischen Recht oder Unrecht unterschieden wird.

Dabei operiert das Recht stets zeitlich nachgeschaltet, es arbeitet Ereignisse aus der Vergangenheit auf. Das bedeutet jedoch nicht, dass es die Zukunft nicht im Blick hätte. Beispiele dafür sind die Rechtsberatung zu geplanten Vorhaben. Oder Erlaubnisnormen, die ebenfalls an Konditionen geknüpft sind. Erlaubt wird ein zukünftiges Verhalten, freilich ohne zu wissen, ob die Erlaubnis je in Anspruch genommen werden wird. Kurz, Konditionalprogramme können zukunftsoffene Programme sein.

Ohnehin liegt die gesamtgesellschaftliche Funktion des Rechts darin, normative Verhaltenserwartungen für die Zukunft zu erzeugen und zu stabilisieren.

Die Verknüpfung von Ursache und Wirkung schließt zugleich aus, dass zukünftige, zum Zeitpunkt der Festlegung noch nicht vorhandene Fakten bei der späteren Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht eine Rolle spielen könnten. In diesem Ausschluss von zukünftigen Tatsachen in der zukünftigen Gegenwart findet sich der große Unterschied zum Zweckprogramm.

Zweckprogramme sind Um-zu-Programme: Strukturen, die die Operationen eines Systems wie der Wirtschaft leiten. In der Gegenwart beschlossen, dienen sie einem Zweck, einem Ziel, das man in der Zukunft zu erreichen hofft. Die Wirtschaft investiert, um Gewinne zu machen. Die Medizin verordnet Therapien, um Krankheitssymptome zu lindern.

Der Begriff des Zweckes ist jedoch problematisch. Ab dem 16. Jh. wurde der Zweckbegriff zunehmend subjektiviert, weil die alte, naturale Zweckdefinition nach Aristoteles als telos, als Ziel und Endzustand der Bewegung, nicht mehr zeitgemäß war.

Bei dieser Subjektivierung kam es jedoch zu Simplifikationen, die schwerwiegende Folgen haben. Der Zweck wurde nun nur noch als gegenwärtige Intention begriffen, ohne die Zeit als Faktor mitzubedenken. Programme, die sich auf eine gegenwärtige Intention beziehen, zielen jedoch in die Zukunft. Sie verschleiern, dass sie die Zeit doppelt modalisieren: Die zukünftige Gegenwart wird immer eine andere sein als im Jetzt vermutet. Und auch der angestrebte Zustand wird nie 1:1 der Zustand sein, der heute imaginiert wird.

Kurz, Zweckprogramme verschleiern, dass die gegenwärtig geplante Zukunft eine andere sein wird als angenommen. Sie riskieren, dass es in doppelter Hinsicht anders kommt, ohne dies mitzukommunizieren. Liquiditätsreserven oder Risikomanagement sind entsprechende Instrumente, um Risiken von Zweckprogrammen einzudämmen.

Zu den Risiken zählt auch, dass die Rationalität, mit der Zweckprogramme begründet werden, nur die Zweckrationalität des jeweiligen Systems ist. Ein Wirtschaftsprogramm kann Gewinn versprechen, aber Umweltrisiken für die Gesellschaft enthalten, rechtlich bedenklich sein und wissenschaftlich auf falschen Annahmen fußen. Was rational ist, hängt vom System ab.

Mit Zweckprogrammen versuchen Systeme, Chancen in der Zukunft zu realisieren und gehen dafür Risiken ein. Im Rechtssystem gibt es dafür keine Entsprechungen.

 

Kommentare

Zum Zweckbegriff habt Ihr Euch ja tapfer interpretierend bemüht, jedoch würde ich als Ergänzung noch die Stelle der Vorlesung "Theorie der Gesellschaft" empfehlen, an der Luhmann die drei großen Unterscheidungen der alteuropäischen Tradition detailliert ausführt. Im Kontext der Unterscheidung von Konditional- und Zweckprogrammen ist hier natürlich vor allem die Unterscheidung Zweck/Mittel relevant und Luhmann beschreibt sehr schön, wie sich der antike Zweckbegriff als Telos von unserem modernen Gebrauch unterscheidet. Nach der Beschreibung dieser drei wesentlichen Unterscheidungen der alteuropäischen Tradition Ganzes/Teile, hierarchisch oben/unten und – teleologisch motiviert – Zweck/Mittel fällt dann noch der theologisch schöne Satz: "Gott genießt sich selber." Mit unserem heutigen Genussverständnis im Sinne von Individualität oder Hedonismus hat das natürlich herzlich wenig zu tun, sondern beschreibt lediglich das Zusammenfallen der Selbst- und Dienstfunktion aus den Unterscheidungen oben/unten und Zweck/Mittel in Gott. In jedem Falle wäre das wohl ein originellerer T-Shirt-Spruch als "Gott ist tot".

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