Wie realisiert das Rechtssystem seine gesellschaftliche Funktion einer kontrafaktischen Stabilisierung von Verhaltenserwartungen? Und ist das empirisch nachweisbar?
Die Theorie sozialer Systeme geht zunächst davon aus, dass sich Systeme selbst von ihrer Umwelt unterscheiden. Sie erzeugen eine System-Umwelt-Differenz, indem sie eine spezifische Differenz in die Umwelt hineinzeichnen. Zudem operieren sie nach internen Normen, die nur in diesem System gelten und nirgendwo sonst.
Beobachtbar ist, dass sich das Rechtssystem auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung selbst steuert. Es beobachtet sich selbst dabei, wie es zwischen normativen und kognitiven Erwartungen unterscheidet. Auf diese Weise bestimmt sich das System selbst. Es operiert dezentral und heterarchisch, durch interne Vernetzungen und zirkuläre Selbstbestätigung.
Um die Frage zu beantworten, ob dies mit empirischer Forschung nachweislich ist, setzt die Theorie sozialer Systeme eine Unterscheidung voraus: Rechtlich verbindliche Entscheidungen werden nicht überall im System getroffen, sondern nur im engen Bereich der Gerichte.
Gerichte bilden – zusammen mit den Parlamenten des politischen Systems – einen eigenen Entscheidungsbereich. Für dessen Einheit gibt es keinen Begriff. Luhmann nennt ihn das organisierte Entscheidungssystem des Rechts. Gerichte stellen darin ein Teilsystem (Subsystem) dar.
Dieses Gerichtssystem differenziert sich durch die Unterscheidung von Mitgliedern und Nichtmitgliedern aus. Mitglieder sind auf die Rolle verpflichtet, sich bei rechtlich bindenden Entscheidungen nach Rechtsnormen zu richten, die in Form von Programmen vorliegen.
Das Gerichtssystem organisiert seinen eigenen Kommunikationsbereich. Es operiert ebenfalls heterarchisch, in diesem Fall unter Mitgliedern. Es beobachtet Gerichtsentscheidungen und richtet zukünftige Entscheidungen daran aus. Zusätzlich differenziert es Entscheidungsnormen und -organe in Form einer Rangordnung, um in komplexen Entscheidungszusammenhängen ein Urteil fällen zu können. Nur hier gibt es eine Hierarchie, die wiederum vom Gerichtssystem selbst bestimmt und normiert wird.
Dabei benutzt das Gerichtssystem Formen der Reflexivität. Es normiert das Normieren. Zugleich schränkt es diese Möglichkeit auf systemnotwendige Normen ein. Es handelt sich um eine Form der doppelten Modalisierung: Das System erwartet normativ, dass normativ erwartet wird. Verfahrensregeln sind hierfür ein typisches Beispiel. Sie werden so normiert, dass die dadurch erzeugte Entscheidung selbst normierend wirkt.
Auch die Kompetenz, Entscheidungen treffen zu dürfen, wird normiert, und es ist wiederum eine Norm, dass es solche Kompetenznormen zu geben hat. Kurz, reflexives Normieren bildet die Basis für das gesamte Entscheidungssystem des Rechts. (Dies gilt also auch für die Gesetzgebung durch Parlamente im politischen System). In dieser Weise repräsentiert das Rechtssystem in der Gesellschaft seine Zuständigkeit für die spezifische Funktion, rechtliche Erwartungen kontrafaktisch zu stabilisieren. Es verkörpert seine Funktion: Personen, Häuser, Akten usw. machen diese Struktur empirisch nachweislich.
Die doppelte Modalisierung ist auch bei Nichtmitgliedern des Systems im täglichen Leben beobachtbar. Wer sein Recht verletzt sieht, vertraut darauf, dass er sein Anliegen juristisch klären lassen kann. Die gesamte Ausdifferenzierung des Rechts zu einem autonomen Funktionssystem beruht auf dieser normativen Erwartung des normativen Erwartens, also auf der Reflexivität des rechtlichen Normierens.
Erst durch diese Reflexivität werden das Recht und seine Entscheidungsinstanzen sozial akzepiert. Fehlt diese Reflexivität, wird Recht als Fremdkörper empfunden, dem man nicht vertrauen kann. In den meisten Hochkulturen verließ man sich darum lieber auf Selbstjustiz innerhalb der vertrauten Ordnung durch Familien, Häuser und Verbände.
Neuen Kommentar hinzufügen